Rock’n’Roll des Meeres: Robert Wilsons „Moby Dick“ im Schauspiel Düsseldorf
Alles schon gehabt, könnte man sagen. Same procedure, Mr. Wilson. Dieses Licht! Die Schatten der Figuren, die sich automatenhaft bewegen, die gespreizten Gesten, die erstarrten Mienen, die schräg toupierten Frisuren. Dazu die irre laute Musik, die das Denken übertönt. Alles schon gehabt. Typische Show der Marke Robert Wilson. Aber Überdruss? Gibt’s nicht. Das Theater des mittlerweile 82-jährigen Amerikaners ist wie ein Rauschzustand, von dem sich das Publikum, alt oder jung, immer wieder lustvoll hinreißen lässt. Mit der Uraufführung von Wilsons „Moby Dick“ wurde im Düsseldorfer Schauspielhaus unter Jubel die Saison eröffnet.
Zuerst ist da ein großes Bild von einem Wal, der emporschießt aus blaugrauen Wogen. Möwenschreie, Meeresbrausen. Und dann: Rock’n’Roll. Pure Leidenschaft. Doch was wir erst einmal sehen, ist ein seltsamer Typ mit langem Rauschebart, Kilian Ponert, bleich geschminkt, gibt ihn als freundliches Gespenst: Ismael, der Erzähler und einzige Überlebende des 1851 erschienenen Seefahrer-Dramas, das sich der verarmte Kaufmannssohn Herman Melville nach Jahren als Matrose ausdachte. Der Roman war übrigens ein Flop, von der Kritik als Schund bespöttelt. Erst im 20. Jahrhundert wurde er zum Klassiker. Jeder kennt „Moby Dick“, den riesigen Pottwal, der vom einbeinigen Kapitän gejagt wird und am Ende obsiegt. Eine Naturgewalt.
Ein Seher, kein Leser
Aber, Hand aufs Herz, wer hat schon das Buch mit seinen langatmigen Beschreibungen, Abschweifungen und absonderlichen Weisheiten gelesen? Naja, muss nicht sein. Auch Robert Wilson ist, wie Chefdramaturg Robert Koall es ausdrückt, „ein Seher, kein Leser“. Texte sind für ihn Rohmaterial. Er reduziert sie gnadenlos und benutzt Sätze, die ihm gefallen, um seine Szenen nicht nur mit Bewegung und Musik, sondern auch mit Sprache zu rhythmisieren. Vieles wird bis an die Grenze des Erträglichen wiederholt. Wenn der Wind dreht zum Beispiel, in die Richtung, wo der Kapitän namens Ahab den Wal vermutet. Günstiger Wind. Doch: „Was heißt günstig? Günstig für Tod und Verderben!“ Das Mantra der Szene.
Im Takt klackt dazu die Prothese des einbeinigen Kapitäns, dessen Besessenheit das Unglück herbeiführt. Ein Wal, vielleicht dieser, hat ihm einst das Bein abgerissen. Und er will nur noch eins: Rache. Tatsächlich spielt das große Tier keine Rolle mehr, es wird nur erzählt, wie Moby Dick, toll geworden durch Harpunenverletzungen, das Schiff zertrümmert und die Besatzung in die Tiefe zieht. „The beast will rise“, das Ungeheuer wird sich erheben, ist von Anfang an klar. Doch als wahres Monster erweist sich der fanatisch getriebene Mensch, der ohne jede Rücksicht handelt. Seltsam, dass Wilson diesen Typ von einer Frau spielen lässt: Rosa Enskat im weißen Kleid der kalten Einsamkeit.
Schön und schaurig
Ihr quirliger Gegenspieler ist „The Boy“, eine Figur, die Wilson hinzugefügt hat. Ein Kind, ein Kasperl, ein Kobold, der hüpft und spukt und kommentiert, ohne dass ihm die Geschehnisse etwas anhaben können … . Christopher Nell, zierlich-markanter Gaststar und Musiker mit engelsgleicher Stimme, macht den unheimlichen Knaben zum Mittelpunkt der Show, singt von „Wanderlust“ und „Desire“, Fernweh und unstillbarem Verlangen. Womit wir bei der Musik wären, die live unter der Leitung des Gitarristen und Komponisten Dom Bouffard mit aller Macht, Geigen, Klarinetten, schwerer Percussion aus dem Graben dröhnt.
Man möchte aufstehen, zucken, tanzen, mitsingen. Die Songs der Britin Anna Clavi, die vor Jahren auch Wilsons „Sandmann“ vertonte, haben die Power von Rockhits mit herzergreifender Poesie: „Cause if I dream it / Maybe it will happen“, vielleicht wird ja wahr, was ich träume. Traumhaft schön und schaurig sind auch die Projektionen, mit denen Wilson arbeitet. Flimmernd wie alter Kintopp. Tatsächlich handelt es sich um Ausschnitte aus John Hustons „Moby Dick“-Film von 1956. Aber man sieht nicht Gregory Peck als irren Kapitän, nur die Charakterköpfe der Statisten am Walfänger-Hafen Nantucket, und dann nur noch Wellen und Möwen, Wolken und Weite und kein rettendes Land.
Die nächsten Vorstellungen
„Moby Dick“ von Herman Melville in einer Bühnenfassung von Robert Koall mit Songs von Anna Calvi und weiterer Musik von Chris Wheeler und Dom Bouffard. Regie, Bühne und Licht von Robert Wilson. Nächste Vorstellungen im Großen Haus am Gründgens-Platz: 28. und 29. September, 6., 19. und 20. Oktober. www.dhaus.de