Nicht wasserscheu: Zwei pitschnasse Romandramen im Schauspiel Düsseldorf
Es ist zum Glück nicht wahr, dass es keine Lust mehr an der lebendigen Kultur gibt. Dass die Leute nur in der Sofa-Zone kuscheln und Netflix gucken wollen. Eine dichte Schar von Begeisterten, 2G-kontrolliert und maskiert, setzte sich einer speziellen Anstrengung aus: der Doppelpremiere von gleich zwei Roman-Dramatisierungen im Kleinen Haus des Düsseldorfer Schauspielhauses. Während draußen auf dem Weihnachtsmarkt der Glühwein der Verdrängung floss, ging es drinnen um die Bewältigung von Verlust. Laura Linnenbaum (35) hat sowohl „Die Wand“ von Marlen Haushofer als auch Max Porters Bestseller „Trauer ist das Ding mit Federn“ inszeniert. Seltsamerweise mit sehr viel Wasser.
Im neuen Theater verlässt man sich nur noch selten auf das gesprochene Wort. Es muss auch Action zu sehen sein, nicht zu knapp. Ein guter Schauspieler ist einer, der keine Leibesübung scheut. Durchtrainiert möglichst, aber vor allem nicht zimperlich. Das Bühnenbild von Daniel Roskamp gibt bei beiden Produktionen den Sport- und Spielplatz vor: einen gewaltigen umgestürzten Baum mit kahlen Ästen in einem Wasserbecken. Da muss kühn geklettert, gesprungen, balanciert werden und vor allem gewatet, gespritzt und geplanscht und untergetunkt, bis die Beteiligten pitschnass dem Ende der Vorstellung entgegensehen.
„Entfesseltes Krähenzeugs“
Warum das so ist? Erschließt sich nicht. Gerade beim ersten Stück nach einem schrägen Roman des Engländers Max Porter hat man eigentlich mit einer anderen Metapher zu tun: dem „Ding mit Federn“. Dabei handelt es sich um eine sprechende Krähe, die einen trauernden Witwer mit zwei kleinen Jungen heimsucht. Die Mutter, nur „Mom“ genannt, ist ganz plötzlich gestorben, die hilflosen Gesten und Lasagne-Portionen wohlmeinender Mitmenschen sind kein Trost. Der komische Vogel hingegen kennt keine Pietät, er krächzt, macht Dreck und Witze, „entfesseltes Krähenzeugs“, spornt die Kinder an und vertilgt so die Traurigkeit.
Die Krähe des spielfreudigen Kilian Ponert ist weniger ein Vogel als eine Drag-Queen an Halloween. Über und über weiß geschminkt, mit schwarzen Augenhöhlen, roten Lippen, schwarzer Langhaarperücke, nackt bis auf ein schwarzes Suspensorium, nur gelegentlich kokettierend mit einem weißen Mantel und einem schwarzen Tüllröckchen, so tobt dieses Wesen über die Bühne, kreischt und kichert, klappert mit den Zähnen wie mit einem Schnabel und reckt den bloßen Hintern. Eine Erotisierung, deren Sinn allerdings verborgen bleibt.
Es muss geklettert werden
Romanautor Porter fand das Trauer-Krähenmotiv bei Ted Hughes (1939-98), dem Poeten und Ehemann der todunglücklichen Kollegin Sylvia Plath. Über dieses Paar soll Porters Held, ein Literaturwissenschaftler, nur „Dad“ genannt, ein Buch schreiben. Aber er kann nicht arbeiten. Der bärige Thiemo Schwarz spielt diesen leidgeprüften Menschen glaubhaft, ohne Faxen. Zerrissen von Schmerz, Sehnsucht, Wut sorgt er sich um seine orientierungslosen Kinder. Man würde ihm vielleicht noch besser zuhören ohne die unaufhörlichen Wasserspiele, denen sich Thiemo Schwarz ebenso hingeben muss wie die beiden (umjubelten) Schauspielschüler Nils David Bannert und Jacob Zacharias Eckstein, die jene mutterlosen Jungs darstellen und dazu am Baum jugendliche Turnerfähigkeiten zeigen.
Auch die 36-jährige Hanna Werth klettert im zweiten Drama des Abends so manches Mal über den Bühnenbaum, als sei das ein Abhang. Aber das passt durchaus. Denn die Protagonistin von Marlen Haushofers 1963 erschienenem Roman „Die Wand“ befindet sich im Gebirge. Sie wollte sich mit Freunden in deren Landhaus entspannen. Die sind jedoch verschwunden. Etwas Ungeheuerliches, Absurdes ist geschehen. Über Nacht hat sich eine unsichtbare, aber undurchdringliche Wand mitten in der Natur aufgebaut. Alles menschliche Leben dahinter scheint in Totenstarre verfallen zu sein. Nur die Frau scheint von dem Verhängnis verschont geblieben zu sein.
Die Zeit steht still
Sie bleibt allein in dem Landhaus zurück, mit einem Hund, einer Katze, einer Kuh. Ihre Vorräte sind begrenzt, aber die namenlose Frau entwickelt Überlebensinstinkte wie Robinson auf seiner einsamen Insel. „Die Zeit steht still“, stellt sie fest, und sie bewegt sich in der Zeit. Ohne Zögern beginnt sie, sich um die Versorgung zu kümmern, Kartoffeln und Bohnen zu pflanzen, Wild zu schießen, Heu zu ernten, die Tiere zu füttern, sich eine eigene Welt zu bauen. Der Roman ist ein weitgehend sachlicher Bericht, den sie beginnt aufzuschreiben, um nicht verrückt zu werden – so lange das Papier reicht. Und weil das Wasserbecken nun mal da ist, muss Hanna Werth die einzelnen Blätter aus dem Wasser fischen und sich ebenfalls sehr nass machen.
Sie lässt uns die Planscherei aber vergessen, kann ganz still sein, innehalten. Sie zeigt uns die Wand mit einer Geste ihrer ausgestreckten Hände und schafft sich im Schutz dieser Barriere eine eigene Welt, die von der Frau eines Tages wehrhaft verteidigt wird. Der Alptraum ist zugleich eine Utopie. Die isolierte Heldin erscheint als eine Art Öko-Feministin, frei vom Ballast der Zivilisation. Hanna Werth gelingt es, in ihrem eineinviertelstündigen Monolog die Lebensenergie der Eingeschlossenen fühlbar zu machen. Wenn sie von ihrem selbstbestimmten Arbeitsalltag erzählt, möchte man gleich mitbuddeln und die Sense schwingen und die Angst besiegen.
Die nächsten Vorstellungen
Die beiden Inszenierungen der Regisseurin Laura Linnenbaum werden nach der Doppelpremiere einzeln im Kleinen Haus des Düsseldorfer Schauspielhauses gezeigt – falls Corona es erlaubt. „Trauer ist das Ding mit Federn“ nach dem Roman von Max Porter steht am 16. (16 Uhr) und 21. Januar (20 Uhr) auf dem Programm. „Die Wand“ nach dem Roman von Marlen Haushofer mit Hanna Werth wird am 29. Dezember, 11. Januar und 2. Februar gespielt, jeweils 20 Uhr. Besuch für Geimpfte und Genesene mit medizinischer Atemschutzmaske. www.dhaus.de