Angela Merkel und Chimamanda Ngozi Adichie im Schauspielhaus Düsseldorf: Jenseits von Afrika
Normalerweise wird hier in Düsseldorf gemeuchelt, kopuliert, gelogen. Dafür ist die Große Bühne des Schauspielhauses schließlich da: Reflexion der Gesellschaft in Düsseldorf. Am Mittwochabend (8.9.) sitzt Angela Merkel vor schwarzem Molton und spricht mit der nigerianischen Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie.
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Große Ehre, Großes Haus: Es ist voll besetzt. Vor dem Bau hielten Menschen Schilder in die Höhe, auf der Suche nach Eintrittskarten. Wer reinkam, erlebt eine Kanzlerin, die sich die letzten Tage ihrer 16-jährigen Macht schön macht. Und eine Schriftstellerin, die nachfragt, was eigentlich aus dem 2018 in Aussicht gestellten Stromvertrag von Siemens mit Nigeria geworden ist. Merkel will nachfragen. Als zu viel Harmonie droht, erwähnt Adichie kurz den YouTuber und CDU-Zerstörer Rezo – die Adichie ist vorbereitet. Geplant war das Treffen bereits für 2020. Dann kam Corona.
Es geht um Politik, Feminismus, Flüchtlinge, Mann und Frau, Afrika. Die beiden Moderatorinnen Miriam Meckel und Léa Steinacker geben sich redlich Mühe, doch wenn ihnen eine Frage nicht passt, lassen sowohl Merkel als auch Adichie sie auflaufen. Die Fragestellerinnen bleiben Beisitzerinnen. Und die Kanzlerin blockt jeden Versuch ab, auf ein Podest gestellt zu werden, auch wenn der zweite Stargast des Abends dies immer wieder versucht.
Europa auf den Schultern
Chimamanda Ngozi Adichie zitiert Hillary Clinton: Madame Chancellor trage ganz Europa auf ihren Schultern – was war daran positiv, was war negativ? Die Berliner Regentin fängt mit dem Negativen an. In der Finanzkrise 2008/2009 hart zu Griechenland gewesen zu sein – das war nicht leicht. Schließlich habe dies dort viele Menschen betroffen, Jobs gekostet, Unsicherheit hinterlassen. Die schönen Momente? „Wenn man drei Tage und zwei Nächste verhandelt hat und am Ende einen Kompromiss erzielt. „Wenn alle Enden zusammenkommen, dann ist das ein Glückgefühl“, sagt Merkel. Der neue EU-Vertrag von Lissabon sei so ein Moment gewesen – oder die Einigung der EU Regierungschefs über Corona-Hilfen.
Physik und die Männer
Merkel verrät, wie sie es gelernt hat, sich in der Männerwelt durchzusetzen. In der DDR habe sie Physik studiert. Weil es da um Konstanten geht wie etwa die Schwerkraft, an der weder Kommunismus noch Kapitalismus drehen konnten. In diesem Studium sei sie in einer Männerwelt unterwegs gewesen. Wenn es mal wieder darum ging, einen der knappen Experimentiertisch zu erobern, hätten die Jungs „immer sofort losgelegt und etwas gemacht. Dabei wussten die auch nicht wie es geht. Ich habe dagesessen und geguckt und mir was überlegt. In der Zeit waren aber alle Tische vergeben.“ Das hat Angela Merkel später besser gemacht.
Späte Feministin
Da hakt Moderatorin Miriam Meckel ein: Vor ein paar Jahren habe Merkel sich geweigert als „Feministin“ bezeichnen zu lassen. „Na ja, ich wollte mich nicht mit fremden Federn schmücken. Simone de Beauvoir oder Alice Schwarzer haben für die Rechte der Frauen gekämpft.“ Mittlerweile falle es ihr negativ auf, wenn ein Podium nur mit Männern besetzt sei. „Da denke ich, das ist nicht richtig – und das ist ein Fortschritt.“ Ja, sie sei Feministin. Und stimmt Adichie zu, die sagt, erst wenn man nicht mehr über die Unterschiede rede, seien Frauen und Männer wirklich gleich.
Übersichtlich
Die teils in den USA, teils in Lagos, Nigeria, lebende Schriftstellerin trägt ein besonderes, farbenfrohes Kleid. „Mode aus Nigeria, nicht wahr“, will eine der Moderatorinnen wissen. „Nein, in Düsseldorf gekauft“, scherzt Adichie. Stimmt natürlich nicht. Das Gewand trage sie zu Ehren ihrer kürzlich verstorbenen Mutter. Die habe von Angela Merkel immer geschwärmt. Ob auch die Mode nutzt, um sich auszudrücken? „Ach wissen sie, mein Outfit ist, wie man so schön sagt, überschaubar, aber ich liebe Farben“, entgegnet die Kanzlerin.
Chimamanda Ngozi Adichie bedauert es, dass das Wissen über Afrika so gering ist, sowohl in Deutschland als auch in den USA. Dort treffe sie immer wieder auf Stereotypen und hat deshalb ein Erklär-Tik-Tok-Video gemacht. Rassismus sei jedoch kein „Amerikanisches Phänomen“. Sowas gebe es ja auch in Deutschland. Und ja, auch bei ihr selbst: Vorurteile über Mexiko habe bei einem Aufenthalt dort stark korrigieren müssen.
Ein Satz und seine Geschichte
So geht es 90 Minuten lang, die viel kürzer wirken. Der 2015er Satz „Wir schaffen das?“ Das sei ein ganz normaler Politikersatz gewesen, sagt Merkel. Schon bewusst gesprochen, weil die Kanzlerin ahnte, dass eine Anstrengung auf die Gesellschaft zukommt. „Aber die Menschen waren schon auf europäischem Boden. Hätten wir sie zurückschicken soll?“ Der Satz sei ganz sicher kein Grund für jemanden in Afrika oder den arabischen Ländern, sich auf den Weg nach Deutschland zu machen. „Die meisten Flüchtlinge bleiben in ihrem Land oder den Nachbarländern.“ Dort müsse man helfen – „das haben wir anfangs übersehen.“
Mehr Gegenwart wagen!
Was Merkel macht, wenn sie in einigen Tagen viel mehr Zeit hat als jetzt? Das bleibt offen. „Möchte ich schreiben? Möchte ich reden? Möchte ich wandern? Möchte ich zuhause sein? Möchte ich in die Welt fahren? Und dazu, habe ich mir vorgenommen, mache ich eben erstmal nichts und warte mal, was so kommt. Und das, finde ich, ist sehr faszinierend.“ Und überhaupt, so der Rat für den Heimweg, solle man weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft leben – „Ich lebe jetzt, hier, in der Gegenwart.“
Durch die Tür
Am Ende gibt es stehende Ovationen für Angela Merkel und Chimamanda Ngozi Adichie. Abgang durch eine offene Tür, das Publikum wird gebeten noch einen Moment im Saal bleiben. Aus Sicherheitsgründen. Vor dem Schauspielhaus Düsseldorf gibt Merkel dann noch rasch einige Autogramme. Dann entschwindet sie.