Küssen verboten: „Dornröschen“ erwacht im Ballett der Oper in Düsseldorf

Die Weltlage? Zum Verrücktwerden. Da freut man sich doch, in gutbürgerlicher Tradition über ein Kulturthema wie das Düsseldorfer Opernhaus zu diskutieren. Ist der preisgekrönte Entwurf für den Neubau am Wehrhahn nun ein Klotz? Oder eine Offenbarung? Darüber müssen wir noch nachdenken. Und was bitte halten Sie davon, dass in Bridget Breiners neuer Version von Tschaikowskys Ballett das schlafende „Dornröschen“ nicht durch den Kuss des Prinzen erlöst wird? Sondern der Wecker klingelt? Das Premierenpublikum jedenfalls war hingerissen, und die zauberhaft getanzte Show ist bis Neujahr ausverkauft.
War ja zu erwarten, dass die politische Korrektheit auch die guten alten Märchen erwischt. Kann man heutzutage noch zeigen, „dass ein Mann eine schlafende Frau ohne ihre Zustimmung küsst“? Das fragte sich Düsseldorfs amerikanische Chefchoreografin Bridget Breiner. Und kam zu dem Ergebnis: No way! Dornröschen alias Aurora wird bei ihr aus eigener Kraft wach, nachdem sie hundert Jahre geschlafen hat. Und sie, die Prinzessin, ist es, die viel später nach längerem Turteln den Liebsten küsst. Bei dem handelt es sich übrigens nicht um den üblichen Prinzen, sondern um einen Jüngling namens Désiré (der Erwünschte). Dessen Mutter ist ausgerechnet die böse Fee. Pardon, die dreizehnte „Weise Frau“.
Fee und Frosch
Schwierige Zusammenhänge, die zum Glück weitgehend im Programmheft erklärt werden. Denn die Figur des „Erzählers“, mit viel Leidenschaft getanzt von Alejandro Azorin im glitzernden Nadelstreifentrikot, hat ja keine Worte, nur sehr schöne Gesten. Und viel zu tun. So schiebt er König (leicht unterfordert: Orazio Di Bella) und Königin auf ihren Thronstühlen an die Rampe. Die Königin (Balkiya Zhanburchinova mit viel Gefühl und komödiantischem Talent) wünscht sich unter schmachtenden Gebärden ein Kind, das ihr schließlich überraschend in der Badewanne von einem Frosch verheißen wird, der die gar nicht so böse Fee im Froschkostüm ist.

Lustiger Moment: Beim Baden erscheint der Königin (Balkiya Zhanburchinova, rechts) die dreizehnte Fee (Sophie Martin) im Froschkostüm. Foto: Altin Kaftira / Deutsche Oper am Rhein
Der Frosch, wird im Programmheft erklärt, kommt aus dem Schlamm, der Tiefe. Er soll dem weiblichen Ur-Wesen verbunden sein, wie die dreizehnte „Weise Frau“ mit Namen Carabosse. Die ist hier allerdings nicht fies und buckelig wie ihr Name suggeriert, sondern elfenhaft zart. Die Französin Sophie Martin gibt der Rolle so viel Anmut und Eleganz, das sie, wie Disneys Malefiz, die Sympathien auf sich zieht. Ist ja auch ein Skandal, dass man sie nicht zur Taufe von Aurora einlädt, nur, weil es nur zwölf blöde goldene Tellerlein im königlichen Haushalt gibt.
Fatale Spindel
Solche Oberflächlichkeit wird bekanntlich schwer bestraft. Nachdem elf der hübschen Gutfeen mit wirbelnden Röcken und Zauberstäben dem Kinde allerlei Feines gewünscht haben, erscheint Carabosse und verflucht Aurora. Sie soll sich an ihrem 15. Geburtstag an einer Spindel stechen und sterben. Die zwölfte Fee, hier Fliederchen genannt (sehr reizend: Elisabeth Vincenti), verwandelt das Todesurteil noch flugs in einen Schlafzauber. Und so nimmt das Märchen seinen Lauf. Kaum hat Aurora (die kraftvoll-hagere Chiara Scarrone wirkt schon sehr erwachsen) den Désiré kennengelernt und einen ersten Flirt gewagt, da erscheint eine fatale Spindel – und die schwarz verschleierte Fee wartet.

Ein Höhepunkt: Der Pas de Deux zwischen der vermeintlich bösen Fee (Sophie Martin) und ihrem Sohn Désiré (Lucas Erni). Foto: Altin Kaftira / Deutsche Oper am Rhein
Vergeblich hat Söhnchen Désiré versucht, die Mutter vom Racheakt abzuhalten. Der Argentinier Lucas Erni tanzt diesen alternativen Prinzen mit viel Ausdruck und atemberaubenden Sprüngen, die an Nurejews Dornröschen-Auftritt denken lassen. Immer wieder brandet der allzeit bereite Szenenapplaus auf. Originell ist die Idee, den berühmten höfischen Walzer aus Tschaikowskys 1890 uraufgeführtem Ballett einem neu erfundenen Pas de Deux von Désiré und seiner Mutter zuzuordnen. Der Tanz zwischen Abwehr und Zärtlichkeit ist sofort verständlich – im Gegensatz zu einem mit ergänzender Musik (von Tom Smith) unterlegten „Alptraum“ der Prinzessin im zweiten Akt. Man gerät vorübergehend in inhaltliche Verwirrung, obwohl die Symphoniker unter Leitung von Yura Yang ohne Bruch schwelgerisch aufspielen.
Rosen und Clowns
Wie immer bei Bridget Breiner ist die tänzerische Leistung tadellos. Die Kompagnie beherrscht ihre Posen, Pirouetten, Arabesquen, Attitüden und Relevés wie aus einem Mädchentraum vom Ballett. Ohne Extravaganzen. Das Publikum liebt es genau so und mag wahrscheinlich auch das recht brave und praktische Bühnenbild von Ausstatter Jürgen Franz Kirner. Leicht drehbare Torwände: eine Seite Schloss-Marmor, eine Seite dunkler Wald. Ebenfalls beweglich ist die Holzlaube voller Rosen, in der Dornröschen schläft.

Feen in Aktion: Bei der Taufe der Prinzessin gibt es nur zwölf goldene Tellerlein, die dreizehnte Weise Frau wird fatalerweise ausgeschlossen. Foto: Altin Kaftira / Deutsche Oper am Rhein
Große Magie kommt nicht herüber. Dafür sorgt Bridget Breiner für ein paar spaßige Momente, es soll ja eine Freude für die ganze Familie sein. So läuft die Fliederfee nach der Pause mit einem Schild „Held gesucht“ durchs Publikum. Sechs Prinzen mit festsitzenden Krönchen hantieren lustig mit güldenen Waffen. Und drei Jungs, Yoav Bosidan, Skyler Maxey-Wert (im Fat-Suit) und der hochgewachsene Dukin Seo als „Kurz“, „Rund“ und „Lang“ sorgen in wechselnden Rollen für dezent clowneske Effekte. Allgemeine Begeisterung!
Schon ausverkauft
Ob „Schwanensee“, „Nussknacker“ oder „Dornröschen“ – Tschaikowskys Märchenballette sind Publikumsmagnete. Die kommenden Vorstellungen von „Dornröschen“ in der Choreografie von Bridget Breiner mit ergänzender Musik von Tom Smith sind bereits ausverkauft – bis zum 2. Januar. Eventuell gibt es noch Restkarten. Informationen unter www.operamrhein.de
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