Die Musik der Linien: Das K21 zeigt Julie Mehretu in Düsseldorf

Kann sein, dass Sie noch nie etwas von Julie Mehretu gehört haben. Aber die 54-jährige, in Äthiopien geborene New Yorkerin mit Wohnsitz in Berlin gehört zu den Big Playern der globalen Kunstszene. Allein im letzten Jahr feierte sie große Shows in Sidney und Venedig, schuf Kunst am Bau für das Obama Presidential Center, entwarf ganz nebenbei das Art Car für BMW. Ihre Bilderwelt aus feinsten Linien und schwebenden Formen fesselt die Aufmerksamkeit, kurbelt die Gedanken an. Das darf man nun dank Susanne Gaensheimer im Düsseldorfer K21 erleben.

Lohnt sich anzusehen: Im Video „Palimpsest“ von 2021 (Checkerboard Film Foundation) erklärt Julie Nehretu ihre Arbeitsweise. Foto: bikö
Auf der Treppe zum Souterrain lockt Musik wie aus einem extravaganten Jazzkeller. Der Musiker Jason Moran hat das Stück für Mehretu komponiert, inspiriert von ihrem Diptychon „Howl“. Ihr frühes Werk „Congress“ beflügelte ein Video von Trevor Tweeten, zu dem ein fetziger Soundtrack gehört. Der Rhythmus, die Power und auch die Dissonanzen des Free Jazz passen perfekt zu den Bildern von Julie Mehretu, die ihre Inspiration aus dem Spirit der Städte und dem Drama der Ereignisse schöpft.
Schwarze Stadt

Ein Gespinst von Linien und freien Formen über zarten Gebäudezeichnungen ist typisch für etliche große Arbeiten von Julie Mehretu wie „Invisible Line (collective)“. Foto: bikö
Wie frühe Zeichnungen zeigen, kann die studierte Künstlerin und Kunsthistorikerin äußerst zart und kleinteilig arbeiten. Auf 20 Jahre alten Blättern fliegen abstrakte „characters“ wie Vogelschwärme durch ein Ungewisses. Mit der Hand gezogene Linien, präzise gesetzt mit einem technischen Zeichenstift, sind auch Bestandteil der monumentalen, bis zu siebeneinhalb Meter breiten Bilder, die Mehretu berühmt gemacht haben. Aus der Ferne sieht man ein abstraktes Gespinst, durchschnitten von Markierungen. Aus der Nähe erkennt man Fassaden, Säulen, Fensterfronten wie eine Ahnung von Gebäuden. Mehretu nutzt architektonische Pläne, um das Bild der Stadt in ihre Kompositionen aufzunehmen. Und es zugleich verschwinden zu lassen wie etwas, das jederzeit vom Winde verweht werden kann.

Genau hinsehen: Die monumentalen Bilder von Julie Mehretu (hier: „Black City“) bergen viele überraschende Details. Foto: bikö
Schicht um Schicht entsteht, mit Hilfe eines Teams, die überwältigende Welt von Mehretus Bildern. „Black City“, die schwarze Stadt, wuselt vor unseren Augen. Da sind die geraden Wände und Ecken der Häuser, durchsichtig, überdeckt von schwarzen Strichen, die Spuren gleichen. Über allem fliegen Farbfelder. Ein weißer Strich zieht einen exakten Bogen durch das Nebulöse, und außer einer gestreiften Spirale verbergen sich witzige, fast romantische Details wie ein kleiner Halbmond und ein paar Sternchen.
Graue Schatten
Tatsächlich, verrät Julie Mehretus Lebensgefährtin und Kollegin Jessica Rankin in einem sehenswerten Dokumentarfilm, dürfen auch die Kinder der beiden mitunter ihre Anregungen geben: „Das sind kleine Geheimnisse.“ Aber der Gesamteindruck ist alles andere als mütterlich. Wenn das politisch nicht so unkorrekt wäre, könnte man sagen, eine männliche Energie und Konsequenz treibt dieses Lebenswerk an. Und obwohl Mehretu niemals mit erzählerischen Motiven auf Ereignisse reagiert, fühlt sie sich doch hoch motiviert von Politik und Aufruhr, Krieg und Frieden.

In den Raum stellt Julie Mehretu einige ihrer Bilder. Die skulpturalen Rahmen sind von der deutsch-iranischen Künstlerin Nairy Baghramian. Foto: bikö
Die brockenhaften Ruinen, die man auf dem Bild „Chimera“ (2013) hinter schwarzen Schlieren und grauen Schatten wahrnimmt, werden als Überreste von Saddam Husseins Palast nach der Zerstörung durch die US-Armee interpretiert. Gegen entsprechende Erklärungen im Saal hat die Künstlerin nichts. Man kann die Kraft der Bilder zwar wie den Jazz intuitiv erfassen, aber Mehretu, die als kleines Mädchen mit ihrer Familie aus Äthiopien in die USA floh, hat auch eine Botschaft. Sie will durchaus, dass man Bescheid weiß – zum Beispiel über den Ursprung der unscharfen grauen Hintergründe, auf die sie in den letzten zehn Jahren ihre freien Formen gesetzt hat.
Heimsuchung
Speziell bearbeitete Pressefotografien werden da mit Airbrush auf Leinwand übertragen. Unkenntlich sind sie und geben doch den Unterton vor. Grundlage von „Panoptes“ zum Beispiel sind Fotografien des russischen Angriffs auf die Ukraine 2022. Verarbeitet wurden von Mehretu auch Bilder aus der Pandemie oder vom Sturm auf das US-Kapitol im Januar 2021. Sie nutzt vielfach verbreitete Fotografien und, so das Museum, „verschleiert ihre Lesbarkeit“. Dennoch bleibt die Bedeutung, die den Betrachter nach dem Willen der Künstlerin „heimsucht“.

Verschwommene Übertragungen dokumentarischer Fotografien bilden den Malhintergrund auf einer Serie von Bildern wie „Panoptes“ (rechts). Foto: bikö
Um das Verständnis zu erleichtern, präsentiert Julie Mehretu in Düsseldorf ihr „Archiv als DNA“. Kopien von „Archive Pages“ offenbaren ihre Quellen. Aber auch das ist ein Akt der Kunst. Durch Freistellungen werden die Figuren und Szenen auf den Blättern zu zeichnerischen Darstellungen. Wie leise Musik …

Auch grafische Arbeiten sind in der Ausstellung von Julie Mehretu zu sehen. An der Wand: der 2018 entstandene Zyklus „Codex Monotypes“. Foto: bikö
Was, wann und wo?
„Julie Mehretu“: bis 12. Oktober im Souterrain der Kunstsammlung NRW im K21, Ständehausstr. 1. Geöffnet Di.-So. von 11 bis 18 Uhr. Eintritt: 14 Euro. Studierende und Azubis zahlen 5 Euro. Kinder und Jugendliche bis 17 Jahre haben freien Eintritt. Bei KPMG-Kunstabend jeden 1. Mittwoch im Monat von 18 bis 22 Uhr ist der Eintritt für alle kostenlos. www.kunstsammlung.de