Kunst bis zuletzt: Günther Uecker stirbt mit 95 Jahren in Düsseldorf

Wer diesen vitalen, strahlenden Künstler erlebt hat, kann es kaum glauben. Die Kraft des Günther Uecker kam aus dem Grauen. 1930 an der pommerschen Ostseeküste geboren, erlebte er am Ende des Zweiten Weltkriegs entsetzliche Dinge. Er musste mit anderen Jungen die angeschwemmten Leichen des versenkten Flüchtlingsschiffs „Cap Arcona“ verscharren. Durch beherzte Entscheidungen und künstlerische Handlungen verwandelte er die Traumata in ein Lebenswerk, das ihn weltberühmt machte. Der Nagel war so etwas wie Ueckers Wahrzeichen, aber keineswegs seine einzige Idee. Gerade hat er noch an Aquarellen gearbeitet, jetzt ist er mit 95 Jahren in seiner Wahlheimat Düsseldorf gestorben.
Er war durchsichtig geworden in letzter Zeit. Das Alter setzte ihm zu. Aber davon ließ er sich nicht abhalten, aufzustehen und selbst für sich und die Kunst zu sprechen, zum Beispiel, als er letztes Jahr im Goethe-Museum die blauen Lichtbögen vorstellte, die er für die Fenster des Schweriner Doms entworfen hatte. Die gestischen Bögen sah er als „einen Augenblick der Gefühlsverdichtung“, als einen „Schrei“ angesichts der anhaltenden „Gefährdung des Menschen durch den Menschen“.

Er war selbst der beste Redner für seine Kunst: Günther Uecker 2024 bei einer Pressekonferenz im Goethe-Museum. Foto: bikö
Rettende Nägel
Das hatte er schon früh zu spüren bekommen, als der Krieg die Ostseeinsel Wustrow erreichte. Günther Uecker war 14, der Vater fern, da kamen die Russen und ließen ihre ganze Wut an den Frauen aus. Viele sollen damals aus Angst ins Wasser gegangen sein. Der Junge schloss sich mit der Mutter, den Schwestern und Kindern von der Insel im Haus ein und nagelte Türen und Fenster von innen mit Holzplatten und Brettern zu – während die Rotarmisten von außen mit Balken dagegen schlugen. Die Festung hielt. „Ich war sehr stolz“, verriet er später in einem Interview.
Nägel zur Rettung, Nägel in der Kunst. Zehn Jahre später, 1955, probierte Uecker das zum ersten Mal aus. Nicht als Kunststudent in der aufstrebenden DDR, wo der Hurra-Realismus verlangt wurde, sondern als armer Schlucker im Westen. Nach Düsseldorf war er geflohen, weil er bei Otto Pankok lernen wollte, dem alten Expressionisten, der so viel vom Schmerz verstand. Doch das Figurative war nichts für Uecker, der zitierte, was Majakowski schrieb: „Die Poesie wird mit dem Hammer gemacht.“
Versuch mit Zero
Und er schwang den Hammer, setzte Nagel an Nagel, energisch und sorgfältig. Seine Reliefs, heute in aller Welt gefeiert, konnten wie Wind in einem Kornfeld aussehen, wie ein Wirbel, wie ein Sog. Ein kraftvolles Zeichen. Es war, als hätte die Zeit darauf gewartet. Berühmt-berüchtigt wurde Uecker, als er seine Nägel 1964 bei einer Vernissage in ein Klavier schlug. Im selben Jahr reüssierte er bei der Documenta III, wo er und seine Kollegen Heinz Mack und Otto Piene den legendären Zero-Raum mit beweglichen weiß-silbernen Objekten einrichteten. Das war allerdings schon der Abgesang für die legendäre Clique, der sich Uecker 1958 angeschlossen hatte: „Zero ist die Stille. Zero ist der Anfang.“
Mack, Piene, Uecker blieben einander verbunden, gründeten 2008 die Zero-Foundation. Aber jeder machte ab den 1960er-Jahren sein eigenes Ding. Während Mack den Sternenglanz feierte und Piene mit Feuer und Luft experimentierte, blieb Uecker bei seinen Nägeln. Er arbeitete jedoch auch mit Schnüren und Asche, Holz und Sand, schuf Schriftbilder und zarte Aquarelle. Die Spuren der Nägel blieben immer da. Man sieht sie als Prägedruck, wie sie ihre Schatten werfen im Weiß des Papiers.

Auch “geschriebene Bilder” gehörten zu Ueckers Lebenswerk. In der Corona-Zeit präsentierte er im Goethe-Museum poetische Arbeiten zu Goethe und dem altpersischen Dichter Hafis. Foto: bikö
Auf der Suche
Bei allem ging es Uecker um das Leiden, das Ringen um Frieden und um eine Harmonie, die der Künstler dem ewigen Scheitern der Menschheit entgegensetzte. 1988 entstand ein Steinmal für das KZ Buchenwald, 1999 gestaltete Uecker den Andachtsraum des neuen Berliner Reichstags. In der Schweiz und auf Wustrow hatte er Refugien. Doch die meiste Zeit lebte er mit seiner Frau Christine und Sohn Jacob in Düsseldorf, wo er von 1974 bis 1995 Professor an der Akademie war. Und für jeden Spaß zu haben. Mit seiner Klasse zeigte er Kunst im winzigen Oberkasseler Friseursalon von Hans Georg Ruckes. Für die Lokalredaktion der NRZ malte er Ostereier an.
Günther Uecker genoss die rheinisch-lockere Lebensart, solange er mit tiefem Ernst seiner Kunst folgen konnte. Dass er im hohen Alter noch die Glasfenster für den Schweriner Dom verwirklichen konnte, war für ihn eine Suche nach Gottesnähe. In Blau, denn: „Wir stürzen uns in den Himmel.“